M. Camenisch: «Hoch Geachter Her Verhörrichter…»

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Titel
"Hoch Geachter Her Verhörrichter …" : Polizeialltag im Bündner Landjägerkorps 1818–1848.


Autor(en)
Camenisch, Martín
Erschienen
Baden 2016: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
675 S.
von
Hans-Ulrich Schiedt

Martin Camenisch untersucht in seiner 2014 an der Universität Zürich bei Carlo Moos eingereichten Dissertation den Polizeialltag im Bündner Landjägerkorps für die drei Jahrzehnte von 1818 bis 1848. Es ist der explizite Anspruch des Autors, «Alltagsprozesse, -handlungen und -denkweisen» zu analysieren und damit eine «Alltags- und Sozialgeschichte des Polizeiwesens» vorzulegen. Grundlage dazu bildet der überaus interessante und ergiebige Quellenkorpus von mehr als 3000 Rapporten der Landjäger an ihre Führungsleute, die Verhörrichter, deren vorhergegangene Weisungen respektive deren nachfolgende Antworten oft auch noch überliefert sind. Diese Rapporte gewähren handfesten, teilweise sogar berührenden Einblick in Existenzweisen und -bedingungen der Landjäger und in den Prozess der Herausbildung eines kantonalen Landjägerkorps.

In der umfangreichen, 675-seitigen Dissertation kommen in erster Linie die Landjäger selbst und die Verhörrichter zu Wort. Es sind dies die ergiebigen Passagen des thematisch ambitioniert und gut strukturierten Werks. Die Landjäger hatten verschiedene Aufgaben. Ihr ursprünglich wichtigster Auftrag war «die Reinhaltung des Herrschaftsgebietes von Landstreichern und Bettlern». Weitere Funktionen waren die Unterstützung der Zöllner bei ihrer Aufgabe sowie die Festnahme von Verbrechern. Die Landjäger waren überdies eigentliche «Handlanger der Regierung und […] Scharnierstelle zwischen dieser und der Bevölkerung». Dabei hatten sie eine wichtige Funktion in der Übermittlung und in der verbindlichen persönlichen Zustellung von Erlassen und Befehlen (S. 54 ff.). Später, ausserhalb des behandelten Zeitraums, kam auch noch die Beaufsichtigung von Zuchthäuslern und Anstaltsinsassen hinzu. Aus diesen Funktionen ergab sich eine funktionale Differenzierung des Korps in Zuchthausangestellte, Grenzzollbeamte und Laufposten, wobei die letzteren im Fokus der Untersuchung stehen.

Der Autor beschreibt in einem ersten Hauptteil die Hierarchien, die Ausrüstung, die räumliche Verteilung der Posten, die Unterkünfte, die Mobilität und die finanziellen Ausstattungen der Landjäger. Dem folgen Auswahlverfahren, Herkunft, Sprache und Religion, Bildung, Privatverhältnisse und Habitus. Der Autor wirft ausserdem die Frage auf, ob es sich bei den Landjägern um «Beamtensoldaten» handelte, wobei die Antwort unbefriedigend ausfällt. Die Feststellung der «Plausibilität» (S. 253) ist zu kurz und auch zu unbestimmt angesichts der Tatsache, dass die vorangehende Argumentation nicht explizit darauf hin leitet. In einem zweiten Hauptteil untersucht der Autor die Genese des Polizeisystems aus den beschriebenen Alltagsumständen und Alltagspraktiken. Er gliedert dabei in die Kapitel Dienst, körperliche Beanspruchung und Verfassung, dienstfreie Zeit, Familienverhältnisse, Beziehungen im Korps und in der Gesellschaft. In einem kurzen dritten Hauptteil unter dem Titel «Innenwelten – die Psychologie des Landjägers» sind die Selbstwahrnehmung, die Gemütszustände und in einem wenig befriedigenden Kapitel ohne genügende begriffliche Klärung die «Ideologie» Thema. Diese drei Hauptteile lohnen auf jeden Fall die Lektüre. Die zahlreichen Fälle, Personen und Geschichten sind vielfältig anschlussfähig. Mit Ausnahme der Vorgesetzten bleibt jedoch im gesamten Werk das Gegenüber der Landjäger, bleiben die Kontrollierten, die Disziplinierten, die Gesetzesübertreter/ innen oder die Randständigen eher blass.

Nicht ergiebig sind dagegen die einleitende Verortung des Themas in der aktuellen Forschungslandschaft der Polizeigeschichte und die theoretische Fundierung. Für letztere macht der Autor Anleihen in den Werken von Foucault, was nicht erstaunt, und bei der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Von Max Weber setzt er sich wenig überzeugend ab. Alles in allem ist diese wesentlich auf Sekundärliteratur unterschiedlicher Reichweite beruhende Fundierung uninspiriert und ungenügend. In den drei Hauptteilen macht denn auch der Autor selbst kaum Rückbindungen an die theoretische Grundlage und auch im zu kurzen Schlusswort versucht er das nicht einmal ansatzweise. Dort wird es richtig inhaltsleer, wenn der Autor etwa schreibt: «Die These, wonach unklare politische Machtverhältnisse ein Mehr an Unsicherheiten hervorriefen, scheint […] plausibel.» (S. 655). Das wirft dann aber auch die Frage nach der fachlichen und redaktionellen Betreuung der Publikation auf.

Schliesslich erfordern auch formale Aspekte eine kurze kritische Würdigung: Die Publikation zeichnet sich im Layout durch einen ausgeprägten Gestaltungswillen aus, wobei die daraus resultierende kleinteilige Textstrukturierung die Lektüre alles andere als unterstützt. Mehrere Schriftgrössen und unterschiedliche Spaltenbreiten haben den Rezensenten mindestens so lange überfordert, als er in diesen eine Logik zu entdecken suchte.

Zitierweise:
Hans-Ulrich Schiedt: Rezension zu: Martin Camenisch, «Hoch Geachter Her Verhörrichter…». Polizeialltag im Bündner Landjägerkorps 1818–1848, Baden: Hier und Jetzt, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 397-398.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 397-398.

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